Ein denkwürdiges Treffen

KLIPP brachte im Jahr 2003 „Gorbi“ und Kohl nach Graz

Michael Gorbatschow starb gestern am 30. August 2022 im 92. Lebensjahr in Moskau. Seit einigen Jahren war gesundheitlich schwer angeschlagen. Im Jahr 2003 gelang es dem Steiermarkmagazin KLIPP mit Unterstützung des damaligen Landesrates Gerhard Hirschmann, also dem Land Steiermark, Michael Gorbatschow für drei Tage nach Graz zu bringen. Die steirische Landeshauptstadt war in diesem Jahr Kulturhauptstadt Europas. Mit Gorbatschow kam auch Helmut Kohl, der Altkanzler der Bundesrepublik Deutschland, nach Graz. „Dialog für Europa“ nannte sich das denkwürdige Großereignis.

Die beiden Brückenbauer für ein neues Europa beeindruckten rund 1.200 Studenten aus Südosteuropa und tausende Steirer als Zuhörer in der wenige Monate zuvor eröffneten Grazer Stadthalle. Es war gleichsam eine der seltenen Geschichtsstunden mit Informationen aus erster Hand. Zählten doch Gorbatschow und Kohl neben US-Präsident Bush zu den maßgeblichsten Protagonisten im Zusammenhang mit dem Fall der Berliner Mauer. „Helmut und ich hatten  entschieden, die kampfbereiten Soldaten und Panzer in den Kasernen zu lassen, kein Blut zu vergießen“, so Friedensnobelpreisträger Michael Gorabatschow in dem zweistündigen Zwiegespräch zu den gebannt lauschenden Besuchern in der Grazer Stadthalle.

Es war also sprichwörtlich mucksmäuschenstill, als Michael Gorbatschow und der deutsche Altkanzler Helmut Kohl in der bis auf den letzten Platz gefüllten Stadthalle vor 4.000 Gästen – moderiert von Vera Russwurm – die entscheidenden Stunden und Telefonate vor dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 schilderten. Der Mauerfall war unblutig und friedlich vonstatten gegangen, was ja vorher völlig unvorstellbar war. Gorbatschow, der US-Präsident Bush Senior und Kohl hatten sich in vertraulichen Telefonaten darauf verständigt, jeweils ihre kampfbereiten Soldaten und Panzer in den Kasernen zu lassen. Zeitgeschichte-Unterricht aus erster Hand, den die 1.200 Studenten erhielten. Die meisten waren aus Südosteuropa nach Graz gekommen - ohne Aufenthaltskosten für die Teilnehmer. Die Energie Steiermark als einer der Hauptsponsoren machte das möglich.

Friedensfest der Superlative

Mehr als 500 Meter lang war der Sonderzug, der am sonnigen März-Vormittag am Grazer Hauptbahnhof mit gut gelaunten jungen Leuten aus Griechenland, dem Kosovo, Bulgarien, Rumänien, Serbien, Montenegro, Kroatien eintraf. „Es war ein bewegendes Gefühl, als wir mit dem österreichischen Botschafter und serbischen Vertretern am Bahnhof in Belgrad freie Fahrt in Richtung Graz gaben“, wird der österreichische Botschafter nachher berichten. Denn das Friedensfest stand an der Kippe, abgesagt zu werden, da 14 Tage vorher in Belgrad Serbiens Ministerpräsident Zoran Djindjic durch ein Schuss-Attentat auf offener Straße ermordet wurde.

Bei den Stopps in Zagreb und Maribor wurde der Zug feierlich mit Musik und offiziellen Reden begrüßt und weitere Studenten stiegen zu.

Der Kärntner Diplomat Valentin Inszko, damals im österreichischen Außenministerium für Südosteuropa verantwortlich, hatte es möglich gemacht, dass alle Studenten mit einem kostenlosen Visum nach Österreich einreisen durften. Die Eisenbahn-Gesellschaften der einzelnen Länder wiederum hatten dafür gesorgt, dass die Fahrt selbst gratis war. Eine logistische Sonderleistung, da die Systeme in jedem Land anders funktionieren.

Organisiert vom Steiermarkmagazin KLIPP nächtigten die Studenten in Heimen und Hotels, gab es verschiedene Workshops und ein umfangreiches Besuchsprogramm. Gänsehaut-Feeling gab es, als von Budapest kommend zeitgleich die Delegationen aus Rumänien, Bulgarien und Ungarn am Grazer Hauptbahnhof einfuhren und es anschließend auf dem Europaplatz vor dem Bahnhof mit Soul, Beat und Rockmusik die erste Willkommensparty gab.

Michael Gorbatschow trug sich unter Blitzlichtgewitter und großem Gedränge in das Goldene Buch der Stadt Graz ein. Siegfried Nagl war als Bürgermeister gerade drei Tage im Amt. „Es war für mich ein denkwürdiger Tag, der mir immer in Erinnerung bleiben wird.“

Gemeinsam mit dem deutschen Altkanzler Helmut Kohl, der von der damaligen Landeshauptfrau Waltraud Klasnic begleitet wurde, stellten sich die beiden den Fragen der internationalen Journalisten-Kollegen. Das Land Steiermark hatte die Prominenz des Landes für ein Dinner mit Michael Gorbatschow und Helmut Kohl in das Schloss Eggenberg geladen. Frank Stronach, damals als Investor und Milliardär den Österreichern bekannt, hatte Michael Gorbatschow für den Besuch in Graz seinen Jet zur Verfügung gestellt. Die steirische Menschenrechtsaktivistin Marianne Graf erhielt in der Stadthalle von Gorbatschow und Kohl den von Hans Schullin gestalteten „Styrian Award for Humanity“ überreicht. Für einen würdigen musikalischen Rahmen sorgten der bekannte Trompeter Toni Maier mit seinem Orchester und nach Graz eingeladene Künstler aus den Balkanländern.

Erfrischend war auch das Zusammentreffen steirischer Gemeindepolitiker und Bürgermeister mit ihren Kollegen aus den jeweiligen Partnergemeinden. Ob sie nun aus Deutschland, Ungarn, Slowenien, Kroatien, der Tschechei oder der Slowakei gekommen waren. Alle freuten sich über das Treffen in Graz.

Zum Abschied brachten die Gäste aus Europa auf einer riesigen Papierrolle ihre Eindrücke und Erlebnisse in Graz zum Ausdruck. Die meisten drückten aus, dass sie später einmal wieder kommen wollten, weil sie die Gastfreundschaft und die Atmosphäre in Graz beeindruckt hatten.

PS: Die Idee und er Auslöser zum „Dialog für Europa“ war bei einer Radtour auf den Schöckl vor St. Radegund im Jahr 2002 entstanden. Wir nahmen auf dem Ortsschild die ungarische Stadt Szászvár als Partnergemeinde wahr. Rund ein Drittel der steirischen Gemeinden hat Partnergemeinden in den europäischen Nachbarländern. Delegationen von dort und junge Menschen - das war der Plan - sollten im Jahr 2003 Graz zur Drehscheibe für den „Dialog für Europa“ machen. Und all dies im Vorfeld zur EU-Osterweiterung im Jahr 2004.

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