Mauer des Schweigens

Vor 80 Jahren: 1945. Kriegsende und Neubeginn. Landeshauptmann und Gauleiter als Massenmörder.

Bis heute unverständlich. Mit Wissen der politischen Führung, schon um 1950, der Exekutive, der Justiz, bis zur Regierung lebte der Ex-Landeshauptmann Sigfried Uiberreither, der größte und brutalste Nazi-Massenmörder auf steirischem Boden, mit Familie 40 Jahre lang bis zu seinem Tod im Jahre 1984 völlig unbehelligt in der deutschen Kleinstadt Sindelfingen als Biedermann. Er war auch in Graz zu Besuch.

Eine kleine Ausstellung im Kassennebenraum des Museums für Geschichte in Graz beleuchtet entlang von fünf Begriffen den Zeitraum von März 1945 bis hin zu den ersten freien Wahlen im wiedererstandenen Österreich im November 1945. Kuratoren dieser Ausstellung „1945. Kriegsende und Neubeginn in der Steiermark“ sind Heimo Halbrainer und Heribert Macher-Kroisenbrunner. Sie wurde als Nachspann zur NS-Ausstellung des Museums für Geschichte konzipiert und lehnt sich gestalterisch an diese an.

Ober-Nazi und feiger Massenmörder flüchtet

Der schlimmste Verbrecher, der in der Steiermark in der Nazi-Ära wütete, war verantwortlich für unvorstellbare Gräueltaten an politischen Gefangenen. Sigfried Uiberreither befahl Massenerschießungen in Grazer Kasernen und am Feliferhof – noch bis Anfang Mai 1945. Zuvor ließ er noch durch die von ihm angeordneten „Standgerichte für pflichtvergessene“ jene Bürger erschießen, die nicht mehr „als Kanonenfutter herhalten wollten. Er selbst aber floh vor dem Einmarsch der Russen in Graz – zu feige, sich zu stellen – mit seinem Dienstwagen samt Chauffeur und Sekretär mit falschen Papieren in die Obersteiermark. Dort hatte er schon vorher seine Frau Käte, eine geborene Wegener, mit den drei Kindern in Sicherheit bringen lassen.

Bis heute bleibt es unverständlich: Knapp 40 Jahre lang – bis er 1984 starb – lebte er als Friedrich Schönharting unbehelligt mit Frau Käte und den Kindern in Sindelfingen (bei Stuttgart). Eine Vorstellung, die Gänsehaut erzeugt. Bis zum Kriegsende war Uiberreither – „ich habe mehr Macht als seinerzeit Kaiser Nero“ – als Reichsstatthalter für die Steiermark und Untersteiermark mit absoluter Macht ausgestattet. Er war also Herr über Leben und Tod. Uiberreither ließ nicht nur in der Steiermark, sondern auch im heutigen Slowenien tausende Regimegegner verfolgen, foltern und hinrichten. Sein Vernichtungswille galt besonders auch den Juden.

Es waren wenige Zeilen in der „Kleinen Zeitung“ vom 30. April 2020, die KLIPP auf die Fährte des NS-Monsters führten, den Zeitzeugen in privatem Umgang als höflich und zuvorkommend beschrieben. Die „Kleine Zeitung“ veröffentlichte einen Bericht des Historikers Dieter A. Binder von der Universität Graz. „Letztes Wüten vor dem Neubeginn.“ Dabei ging er auch kurz auf Sigfried Uiberreither ein. Unter neuem Namen, der den österreichischen Behörden bekannt war, lebte er in Deutschland unbehelligt, so der Historiker Dieter A. Binder in seinem Bericht, da man „vergaß“, die Auslieferung zu beantragen.

Fragen über Fragen ...

Wie ist das möglich gewesen? – fragt man sich. Wer waren die Helfershelfer? Wie kam Sigfried Uiberreither und seine Familie zu ihrer neuen Identität? Welche ehemaligen Parteifreunde halfen ihm dabei? Welches politische Netzwerk schützte ihn? Und welche Rolle spielte dabei der amerikanische Geheimdienst? Warum gerade Sindelfingen? Also Fragen über Fragen, auf die bis heute die Antworten fehlen.

Licht ins Dunkel, besser gesagt in die absolute Finsternis, über das zweite Leben von Sigfried Uiberreither als „Friedrich Schönharting“ im deutschen Sindelfingen brachte erstmals im Juli 2008 der bekannte Historiker Heimo Halbrainer. Er veröffentlichte gemeinsam mit Christian Stenner in der mittlerweile eingestellten Zeitschrift „Korso“ eine Reportage mit unglaublichen Details. Doch auch diese löste kein „Bedürfnis“ nach Aufklärung bei den Verantwortlichen in der Steiermark oder in der Republik aus.

Der 1908 in Salzburg geborene Sigfried Uiberreither schloss sich Ende der 1920er-Jahre dem steirischen Heimatschutz unter dem Judenburger Rechtsanwalt Walter Pfrimer an, ehe er 1931 der SA beitrat. Er war in der Folge eine der treibenden Kräfte hinter dem „Anschluss“. Unmittelbar nach dem 13. März 1938 wurde er kurzzeitig kommissarischer Leiter der Polizei und am 22. Mai 1938 steirischer Gauleiter und Landeshauptmann. Nach dem Überfall auf Jugoslawien 1941 wurde er zudem Chef der Zivilverwaltung in den besetzten Gebieten der Untersteiermark, ab 1942 Reichsverteidigungskommissar und ab 1944 auch Führer des „Volkssturms“. Er war einer der Hauptverantwortlichen für die Enteignungen der Juden, Roma und anderer und befahl auch die Durchführung der „Todesmärsche“ ungarischer Juden im April 1945 nach Mauthausen.

Seltsame Flucht

Auf der Flucht verhafteten die Briten Sigfried Uiberreither im Raum der Obersteiermark. Dort traf er sich mit seiner Frau, Kindern und anderen Familienmitgliedern. Ein Versteck für kurze Zeit hatte er auch auf der Grebenzen mit Hilfe von ebenfalls untergetauchten Nazi-Funktionären und Unterstützern gefunden. Gemeinsam mit dem von den Briten ebenfalls aufgegriffenen Kärntner Gauleiter Friedrich Rainer brachte man ihn ins Internierungslager Krumpendorf. Am 12. Oktober überstellte man beide nach Nürnberg. Dort wurden sie vor dem Internationalen Militärgerichtshof gegen die Führung des nationalsozialistischen Staates einvernommen.

„Gauleiter-Kollege“ hingerichtet

Am 14. Mai 1947 berichteten die österreichischen Zeitungen, dass Sigfried Uiberreither aus dem Lager Dachau geflohen sei, wo er darauf gewartet hatte, nach Jugoslawien ausgeliefert zu werden. Dort erwartete ihn die Todesstrafe. Während Uiberreither „fliehen durfte“, war Rainer bereits an Jugoslawien ausgeliefert worden, wo man ihm im Juli 1947 der Prozess machte. Friedrich Rainer wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Mit Wissen und Duldung des US-Militärs sowie Unterstützung ehemaliger Nazi-Funktionäre erhielten Sigfried Uiberreither und seine Familie eine neue Identität. Und sie begannen in der Stadt Sindelfingen im Jahr 1948 ihr neues Leben als Familie Schönharting. In der „Korso“-Reportage berichten Heimo Halbrainer und Christian Stenner im Detail über das spätere Familienleben. Unabhängig davon erwähnt auch Historiker-Kollege Dieter A. Binder Besuche der Familie Schönharting in Graz.

Image-Schaden für Opferrolle Österreichs?

Die politische Führung Österreichs hatte die Befürchtung, dass eine Verhaftung Uiberreithers und der unvermeidbare Gerichtsprozess für das internationale Ansehen der Republik mit großem Schaden verbunden wäre. Es gab das Beispiel des Lagerführers Murer und auch des Psychiaters Gross. Das kollektive Verschweigen lief unter dem Schlagwort Versöhnungspolitik oder auch „kalte Amnestie“. Bruno Kreiskys Attacken gegen Austrofaschisten, wie etwa Dollfuß und Co., waren bekannt – aber auch seine Zurückhaltung, wenn es um Ex-Nazis ging. FPÖ-Mann und SS-Hauptmann Friedrich Peter machte er mit seiner FPÖ sogar regierungsfähig.

Rücksicht auf wen?

Sigfried Uiberreither war vor der Machtergreifung der Nazis in Graz Jurist in der steirischen Gebietskrankenkasse. Ein Obmann in dieser Zeit war ein „gewisser Josef Krainer“, von 1948 bis zu seinem Tod 1971 Landeshauptmann. Sein Sohn Josef Krainer kam 1980 in die Landesregierung und wurde ebenfalls Landeshauptmann. Er blieb bis 1996. Josef Krainer I überstand die Nazi-Ära unbeschadet. Der spätere Direktor des Landesarchivs verwehrte Historikern die Einsicht in die Akten mit dem Hinweis, diese würden 50 Jahre unter Verschluss bleiben müssen. Warum wohl? – hieß es damals. Im Kollegenkreis der Historiker war die Geschichte Sigfried Uiberreithers nämlich allgemein bekannt. Also auch Stefan Karner? „Ja, freilich“, sagt der Historiker Dieter A. Binder. Warum Karner als Kriegsfolgenforscher und Experte für die Nazi-Zeit sein Wissen nicht entsprechend publizierte, weiß Binder nicht.

Vor wenigen Tagen präsentierte Stefan Karner sein Buch „Gauleiter Uiberreither – Zwei Leben“, erschienen im Leykam Verlag.

Interessant und lesenswert ist auch der KLIPP-Bericht „Mangelwerk in 2. Auflage“ im Zusammenhang mit Stefan Karners Buch „Die Steiermark im 20. Jahrhundert“:

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