Neue Forschungen über NS-Zwangsarbeiter:innen in Graz

„15 Peitsche! – 2 Uhr Kniebeuge! – Alle schlafen! Los! – Was ist los, Kerl!“ Diese und andere Befehle finden sich in einem handschriftlichen „Wörterbuch“, das ein sowjetischer Zwangsarbeiter namens Ivan Anosov im Lager Liebenau mit deutschen Vokabeln angelegt hatte, um sie für sich und andere Zwangsarbeitende auf Russisch zu übersetzen. Geboren wurde er am 26. September 1914 in Maniv in der UdSSR. Er kam in einem Zwangsarbeitertransport am 27. August 1942 nach Graz und wurde im Lager Liebenau in der Baracke 170 untergebracht, verließ das Lager jedoch am 3. September 1942 schon wieder.

Solch kurze Aufenthalte waren häufig, da das Lager Liebenau als „Ankunftslager“ diente und viele Zwangsarbeiter:innen erst danach in andere Lager oder lagerähnliche Einrichtungen überstellt wurden. Für 15 Monate verliert sich seine Spur, bis er am 10. Jänner 1944 in das Lager Murfeld II in die Baracke 10 aufgenommen wurde. Laut Meldekartei war seine Funktion im Lager Liebenau „Hilfsarbeiter“, im Lager Murfeld II „Chemiker“. Am 12. April 1944 wurde Anosov wieder in das Lager Liebenau überstellt, diesmal in die Baracke 101. Nach Kriegsende kehrte Anosov in die Sowjetunion zurück. 

Datenbank: erstmals detaillierte Kenntnisse über Netzwerk

Während des Zweiten Weltkrieges kamen rund 580.000 zivile Zwangsarbeiter:innen aus beinahe allen Gebieten Europas auf das Gebiet des heutigen Österreichs, so auch nach Graz. Sie bildeten ein entscheidendes Rückgrat der NS-Kriegswirtschaft. Über den Einsatz dieser „Fremdarbeiter:innen“ führten die NS-Meldebehörden penibel Buch, registrierten die wesentlichen Daten zur Person und zu ihrem Aufenthalt im „Dritten Reich“.

Die Meldekarteien zur NS-Zwangsarbeit in Graz – aufbewahrt im Grazer Stadtarchiv – konnten nun im Rahmen eines Forschungsprojektes des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung (BIK) und der Universität Graz erstmals in Form einer Datenbank erschlossen und ausgewertet werden.

Die 15.304 Einträge zu den Zwangsarbeiter:innen in Graz zeigen, dass die meisten aus Italien und Russland stammten, gefolgt von Frankreich, Kroatien und der Ukraine. Rund ein Drittel war zum Zeitpunkt ihrer Verschleppung jünger als 20 Jahre. Sie arbeiteten in der Grazer Rüstungsindustrie wie Steyr-Daimler-Puch, in der Landwirtschaft oder in privaten Haushalten. Ihre Unterbringung erfolgte in einem Netz von Lagern und lagerähnlichen Einrichtungen, das die gesamte Stadt überzog und nun im Detail dargestellt werden kann.

Kulturstadtrat Günter Riegler: „Tausende Zwangsarbeiter:innen sind während der NS-Zeit nach Graz verschleppt worden. Es ist wichtig, dass dieses dunkle Kapitel der Stadtgeschichte beleuchtet wird. Das sind wir nicht nur den Opfern schuldig, denn sie dürfen nicht vergessen werden, es ist auch unsere Verpflichtung aufzuklären und zu erinnern, um zu verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt.“

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