Gedanken zur Impfpflicht

OFFENER BRIEF
Ergeht per Mail an LH Schützenhöfer, an die Abgeordneten zum Steirischen Landtag, an die Gemeinderatsmitglieder der Stadt Graz und an politische Mandatare in den Bundesländern.

 

Werter Herr Landeshauptmann Schützenhöfer!
Werte Abgeordnete!

Seriöse Experten von Infektionskrankheiten stimmen darin überein, dass ein neuer, aggressiver Grippe-Typ die größte Bedrohung für die globale Gesundheit darstellt, schreibt Hans Rosling vor dem Ausbruch der Pandemie in seinem Buch „Factfulness“ (erschienen 2019). „Das Buch macht Hoffnung“, so Ex-US-Präsident Barack Obama. Und Bill Gates, ein anderer Großer: „Eines der wichtigsten Bücher, die ich je gelesen habe.“

Eine durch die Luft übertragene Krankheit wie die Grippe, die sich sehr schnell ausbreiten kann, stellt für die Menschheit eine größere Bedrohung dar als Ebola oder HIV/Aids. Eine infizierte Person in der U-Bahn kann alle Mitreisenden im Wagen anstecken, ohne dass man sich gegenseitig berührt oder dasselbe angefasst hätte, so Rosling. Uns auf jede erdenkliche Weise vor einem Virus zu schützen, der hochgradig übertragbar ist und gegen den alle Abwehrkräfte machtlos sind, ist, gelinde gesagt, jede Mühe wert.

Kaum etwas verzerrt die Weltsicht bei Krisen so sehr, wie die Dringlichkeit. Die überdramatisierte Weltsicht in den Köpfen der Menschen erzeugt ein permanentes Gefühl von Stress und führt zu einem bedrängenden „Jetzt-oder-Nie-Empfinden“. Wir müssen etwas Besonderes tun. Ja nicht exakt analysieren, Hauptsache man tut etwas.

Nicht nur einseitig

Omikron ist immens wichtig, aber auch eine Chance. Wenn etwas dringlich und wichtig ist, sollte es gemessen werden – was ja geschieht bei Omikron. Der springende Punkt: Man sollte sich aber vor Daten hüten, die relevant sind, aber ungenau. Und diese Situation haben wir jetzt: Nur relevante und genaueste Daten sind nützlich. Die Daten, aber auch die Prognosen der Forscher sind widersprüchlich. Es bedarf einer vollständigen Reihe von Szenarien. Und vor allem Vorsicht mit drastischen Aktionen. Da gilt es, sich zu erkundigen, wie die Begleiterscheinungen sind. Praktische und schrittweise Veränderungen und die Bewertung ihrer Wirkung sind weniger dramatisch und dafür in der Regel effektiver.

Wesentlich in einer solchen Situation ist, nicht nur die Worst-Case-Linie zu zeigen, als ob damit sicher zu rechnen wäre, sondern auch eine Reihe alternativer Möglichkeiten, die von den besten bis zu den schlechtesten reichen. So schützt man sich und seinen guten Ruf und sorgt dafür, dass man den Leuten nie Gründe dafür liefert, dass man ihnen als Verantwortliche nicht mehr zuhört. Denn nur das Worst-Case-Szenario herauszugreifen, ist ein Fehler und führt davon weg, die Menschen dabei zu unterstützen, grundlegende Fakten zu verstehen.

Und da ist die Aussage von Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer, die Impfpflicht komme zu spät, eine hitzköpfige Behauptung. Und warum? Er rechtfertigt diese Impfpflicht als einzige Strategie oder als notwendige, um das Engagement der Menschen zu steigern. Er übersieht jedoch, dass es sich um eine Übertreibung handelt und auf diese Weise lässt er eine realistische Lösung aus dem Blickfeld fallen. Ja, man muss sich immer weiter mit dem Problem befassen. Man darf aber nie zum Opfer der eigenen frustrierten und alarmierenden Botschaften werden. Und wer anderen Dampf machen will, muss trotzdem kühlen Kopf bewahren, um kluge Entscheidungen treffen zu können und seine Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel zu setzen.

Zweck heiligt die Mittel

Die Impfpflicht-Befürworter gehen nach dieser Devise vor. Und man muss zugeben, dass das auf kurze Sicht funktionieren könnte. Aber bei einem so gewaltigen Problem wie der Covid-Pandemie darf das einfach nicht geschehen. Denn wenn der Instinkt der Dringlichkeit ausgelöst wird, klinken sich auch die anderen Instinkte ein und der analytische Verstand verabschiedet sich. Es braucht also mehr Zeit für weitere Informationen und die Gelegenheit dazu ist jetzt da – ausgelöst durch Omikron.

Die Politik appelliert seit Monaten an unseren Instinkt der Dringlichkeit. Der Aufruf zu einer Handlung sorgt dafür, weniger kritisch zu denken, schneller zu entscheiden und sofort zu handeln.

Weitsicht besteht aber darin, zu erkennen, dass eine einzige Perspektive die Vorstellungskraft begrenzen kann. Und sie besteht darin weiters, zu erkennen, dass es besser ist, Probleme von verschiedenen Seiten aus zu betrachten, um sie umfassender zu verstehen. Um praktische Lösungen zu finden und den Instinkt der einzigen Perspektive unter Kontrolle zu bekommen, sollte man sich einen Werkzeugkasten zulegen, keinen Hammer.

Wenn man mit einem Hammer gut umgehen kann, neigt man wahrscheinlich dazu, ihn zu oft zu verwenden. Man sollte daher daran denken, dass ein bestimmtes, einzelnes Werkzeug nicht für alles taugt. Wenn Ihre bevorzugte Idee der Hammer ist, suchen Sie sich Kollegen, Herr Landeshauptmann, die Schraubenzieher, Steckschlüssel und Maßbänder haben. Seien Sie daher offen für Ideen und Anregungen aus anderen Bereichen.

Wenn man stets entweder für oder gegen eine bestimmte Idee Stellung nimmt, blendet man Informationen aus, die die eigene Sichtweise nicht stützen. Das ist gewöhnlich eine schlechte Herangehensweise, wenn Sie die Wirklichkeit begreifen möchten.

Seit zwei Jahren zeigt das Virus Covid, Corona Ihnen als politische Verantwortliche, dass sich – egal, was Sie tun – kaum Kontrolle über die nächsten paar Wochen gewinnen lässt. Eine Mutation reicht aus, um trotz mühsam errungener Impf-Fortschritte die Krankenhausbetten wieder zu füllen. Seit zwei Jahren ist Corona ein Feind hinter einer Nebelwand. Kein Wunder, dass die Politik immer gereizter wird, mit der Schrotflinte darauf zu schießen. Es ist verständlich, aber außerordentlich gefährlich. Denn genau dann, wenn große Teile der Bevölkerung ebenfalls gestresst und ängstlich sind, lassen sich die Gewichte von Freiheit und Sicherheit besonders reibungslos verschieben. Und genau das passiert jetzt gerade recht offenkundig.

Laut den neuen 2G-Regeln dürfen nur Doppelt-Geimpfte Restaurants besuchen. Nicht-Geimpfte dürfen mit einem negativen Test nicht hinein. Das ist unlogisch. Ja, die Solidarität ist das Gebot für die Bürger und die Verantwortlichen sollten besonders umsichtig handeln. Aber mittlerweile droht diese Umsicht in eine Mentalität zu kippen, in der Risikovermeidung als oberstes Vernunftsgebot gilt und die Freiheit des Anderen prinzipiell rechtfertigungspflichtig ist – ja, als „verantwortungslos“ gedeutet wird. Zum Beispiel dann, wenn ein gesunder, weil getesteter Bürger ein Restaurant oder Einkaufszentrum betreten will.

Nichts erzwingen wollen

Bisher hat immer gegolten: Beschränkungen der Grundrechte dürfen nur zur Sicherung anderer Grundrechte dienen. Nicht aber zur Erzwingung eines politisch erwünschten Verhaltens. Beides kann miteinander vereinbar sein. Aber das ist es nicht, wenn die Politik strengere Maßnahmen setzt, während, wie jetzt, sich die Lage auf den Intensivstationen entspannt, doch eine Impfpflicht ausgerechnet in dem Moment zur „Ultima Ratio“ der Regierenden wird, in dem die Omikron-Variante die Hoffnung darauf macht, dass immer mehr Infektionen glimpflich ablaufen und verlaufen.

In seinem Kommentar schreibt Jochen Bittner in der „Die Zeit“ (Nr. 3, 13. Jänner 2022) weiter: Die Mehrzahl der Vorsichtsmaßnahmen ist berechtigt, aber eines sollte eine übergeordnete psychologische Hygieneregel bleiben: Infektion mit der Angst kann Ihre und die Freiheit anderer gefährden. Denn Angst nährt Konformismus. Wer den Eindruck erweckt, ihm sei eine Gesellschaft lieber, die die stärksten Grundrechtseinschränkungen seit Gründung der Republik vollkommen klaglos hinnimmt, dem traut man natürlich umgekehrt kein großes Vertrauen in die freiheitliche Demokratie zu.

Beide Seiten, Befürworter und Kritiker, zeigen deswegen mittlerweile Kennzeichen einer neurotischen Haltung, wie Erich Fromm sie in „Die Furcht vor der Freiheit“ beschrieben hat: Der Zwang, ein unerträgliches Gefühl loszuwerden, war so stark, dass es dem Betreffenden unmöglich war, sich für eine Handlungsweise zu entscheiden, die zu einer wirklichen Lösung und nicht zu einer scheinbaren geführt hätte.

Diesen Sieg über den Staatszweck, die Freiheit aller maximal hoch zu halten, hat das Virus nicht verdient. Auch nach zwei Jahren der Zermürbungsversuche nicht. Die Schweiz mit ihren strengen Regeln und doppelt so hohen Infektionszahlen beweist es mit zwei Beispielen bei den Skirennen in Adelboden und Wengen. Dort waren 20.000 Zuschauer erlaubt. Natürlich gab es auch Kritik daran. Aber zu Tode gefürchtet, ist auch gestorben. In Schladming und Kitzbühel hingegen werden wir Geisterrennen haben – mit maximal 1.000 Fans …

Es ist schon immer ein Trugschluss gewesen, dass staatliches Ringen um mehr Sicherheit die Freiheit retten könne. Unterm Strich geht dann leider beides verloren. Karl Kraus, der österreichische Satiriker und Schriftsteller, soll gesagt haben: „Österreich ist das einzige Land, das durch Erfahrung dümmer wird.“

Das darf nicht sein.

Jürgen Lehner
Steiermarkmagazin KLIPP

Quellen: KLIPP-Archiv, „Factfulness“ von Hans Rosling, „Die Zeit“ Jochen Bittner (Nr. 3, 13. Jänner 2022)

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